Nils Goldschmidt und Arnd Küppers

Ordnungsethik der Sozialen Marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft ist von ihrer Grundidee her nicht nur ein Wirtschaftsmodell, sondern zugleich ein genuin sozialethisches Konzept. Das hat geschichtliche Gründe. Aber wir sind der Überzeugung, dass dieser Ansatz, die Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft und Sozialethik zu verbinden, auch heutzutage notwendig ist. Dieses Feld neu zu vermessen und auszuleuchten ist Ziel des Projektes, das auf dieser Website vorgestellt wird.

Im Mittelpunkt des Konzepts „Soziale Marktwirtschaft“ steht nicht allein die Frage ökonomischer Produktivität. Es geht vielmehr, wie es in dem berühmten Buchtitel von Ludwig Erhard heißt, um „Wohlstand für alle“, also auch um sozialen Ausgleich und damit verbunden um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Erhard beschreibt genau das in dem Vorwort seines Buches als sein Hauptanliegen und als den „roten“ Faden seines wirtschaftspolitischen Denkens und Handelns. Das Wirtschaftswachstum in der Wiederaufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg war für ihn kein Selbstzweck, sondern vor allem ein Mittel, die überkommene sozioökonomische Struktur der Gesellschaft zu überwinden und damit eine fortschrittliche Entwicklung zu ermöglichen. Diese sozialethischen Ziele standen für ihn derart im Vordergrund, dass er den gewählten Buchtitel in späteren Jahren sogar für problematisch gehalten hat, weil der Begriff des „Wohlstands“ den Blick des Publikums nach seiner Wahrnehmung zu sehr auf den materiellen Aspekt seines Anliegens verengt hatte. Wirtschaftlicher Wohlstand war für ihn Mittel zum Zweck eines umfassend verstandenen gesellschaftlichen Wohlergehens.

Diese Haltung teilte Erhard mit den anderen Gründergestalten der Sozialen Marktwirtschaft. Das hat auch damit zu tun, dass die ersten ordnungsökonomischen Ideen und Entwürfe auf die Zeiten der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus zurückgehen. Diese Menschen hatten erlebt, wie eine zunehmende Vermachtung der Märkte und die dadurch bedingten sozialen Gegensätze und politischen Interessenkämpfe wesentlich zur Unterminierung der ersten deutschen Demokratie beigetragen hatten. Und sie hatten gesehen, wie diese Strukturen den Nationalsozialisten ein leichtes Spiel bei der Indienstnahme der deutschen Wirtschaft für ihre Diktatur und ihre Kriegspläne bereiteten. Die Mütter und Väter der Sozialen Marktwirtschaft waren deshalb wie die ganze Wiederaufbaugeneration von der Frage durchdrungen, wie diese Katastrophe hatte passieren können und welche Vorkehrungen für die Zukunft getroffen werden müssten, damit sich so etwas niemals wiederhole. Wer Walter Euckens „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ oder die anderen nach dem Krieg erschienenen grundlegenden Texte zur Ordnungspolitik zur Hand nimmt, muss sich bewusst sein, dass die Autorinnen und Autoren auch dieses Ziel immer klar vor Augen hatten. Die Soziale Marktwirtschaft war für sie integraler Bestandteil des, wie es Alfred Müller-Armack ausgedrückt hat, Programms einer „sozialen Irenik“, also des Versuchs, die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden und dadurch ein soziales Fundament für den Wiederaufbau der parlamentarischen Demokratie in Deutschland zu schaffen.

Ausgangspunkt unseres Forschungsprojektes ist die gemeinsame Überzeugung, dass dieser Zusammenhang von Ordnungspolitik und Sozialethik nicht einfach bloß diesem einmaligen geschichtlichen Entstehungshintergrund geschuldet ist, sondern dass er zur Substanz der Sozialen Marktwirtschaft gehört. Auch unsere Epoche ist von wachsenden sozialen Gegensätzen und Konflikten geprägt. Das erleben wir zum Beispiel bei den Fragen von prekärer Beschäftigung, Einkommens- und vor allem Vermögensungleichheit oder wenn es um die Gentrifizierung städtischer Quartiere und um bezahlbaren Wohnraum geht. Scharfe gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen sehen wir auch bei den Themen Freihandel, Migration, Klimapolitik oder Pandemiebekämpfung. Bei allen unterschiedlichen Positionen zu diesen Fragen, scheinen viele Menschen allerdings in der Überzeugung geeint, dass die Marktwirtschaft zur Lösung dieser sozialen Herausforderungen nichts beitragen kann. Vielmehr ist eine wachsende Mehrheit der Auffassung, dass „der Kapitalismus“ die eigentliche Hauptursache der Probleme ist. Eine ihrem Wortsinn entsprechende Soziale Marktwirtschaft vermögen viele Menschen nicht mehr zu erkennen.

Das hat aus unserer Sicht auch damit zu, dass sich die ökonomische Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus dem Diskurs über normative Fragen zurückgezogen hat. Wenn sich Ökonominnen und Ökonomen heute überhaupt noch zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen äußern, dann werden sie meistens lediglich als Fachwissenschaftler wahrgenommen, die technische Lösungen für Finanzierungsfragen vorlegen. Viele Sozialethikerinnen und Sozialethiker aus Philosophie, Theologie und Sozialwissenschaften wiederum formulieren scharfe Kritiken des „Spätkapitalismus“, vermeiden aber eine saubere institutionenethische Analyse der sozialen Herausforderungen.

Diese Konstellation halten wir sowohl wissenschaftstheoretisch als auch politisch für fatal. Politisch fatal vor allem deshalb, weil große Menschheitsherausforderungen wie der Klimawandel oder die nationale und weltweite Armutsbekämpfung ohne den marktwirtschaftlich effizienten Einsatz der knappen Ressourcen, die uns zur Lösung der Probleme zur Verfügung stehen, nicht gelingen kann. Ziel unseres Projektes ist es deshalb, einen Beitrag zu der Überwindung der wachsenden interdisziplinären Sprach- und Verständnislosigkeit zwischen Ökonomik und Sozialethik zu leisten. Eine Ökonomik, die einen konstruktiven Beitrag zur Bearbeitung realer sozialer Fragen leisten möchte, darf normativen Fragen nicht aus dem Weg gehen. Denn die politische Debatte, die in der Demokratie über solche Fragen entscheidet, ist in weiten Teilen ein normativer Diskurs. Eine Sozialethik wiederum, die nicht nur moralisieren, sondern sich kompetent zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen äußern möchte, darf die wissenschaftlichen Erkenntnisse über ökonomische Institutionen nicht ausblenden. Denn auch im Feld der Wirtschaftspolitik gilt, was Erich Kästner ganz allgemein über die Moral geschrieben hat: „Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.“

Ziel unseres Projektes ist es deshalb, einen neuen interdisziplinären Diskurs zur Ordnungsethik Sozialer Marktwirtschaft anzustoßen. Über Resonanz und Beiträge dazu freuen wir uns. Schreiben Sie uns gerne!

Nils Goldschmidt und Arnd Küppers